FÜR ROLF

Güterbahnhofsfeld
„Die Antonienstraße quert auf halbem Wege von Kleinzschocher nach Grünau das Gelände eines Güterbahnhofes, der über verschiedene Gleistrassen mit dem Plagwitzer Industriequartier verknüpft war. Heute bietet dieser Ort einen fast ländlichen Eindruck und die aufgelassene Ladestraße avanciert zu einer Promenade am Rande der Stadt. Im Frühjahr legt sich ein hellgrüner Teppich über die vielen Schienenstränge. Zum Ende des Sommers kann man in einem Meer von Goldruten und wildem Beifuß spazieren gehen und zu Beginn des Winters wirken die Beleuchtungsmasten und Signalanlagen wie die letzen Halme eines abgeernteten Feldes.
Am S-Bahnhof-Plagwitz in der Naumburger Straße gleich nach rechts abbiegen.“
SOURCE:  2002 © IRIS REUTHER, DIE ANSICHTSKARTE, 7×7 LEIPZIG

Drei Farben Gelb
oder:

Die Stadt als Landschaft

ROLF REUTHER

Schon seit langer Zeit, als die Menschen sich mit ihren Wegen, Straßen und Häusern, später auch mit ihren Fabriken, Eisenbahnen und riesigen Bahnhöfen, Schlachthöfen, Gaswerken und anderen Versorgungsanlagen in die Landschaft – das ureigenste Gelände der Natur – einnisteten, wehrte sich die Natur gegen diese Eingriffe und Eindringlinge.
Oft war sie über lange Zeiträume unterlegen. Sobald aber eine Lücke auftauchte – der Biologe spricht neuerdings von einer ‚ökologischen Nische’ – war die Natur wieder da, freute sich, wuchs, fühlte sich wohl und begann sofort mit der Fortpflanzungstätigkeit.
So ist es eigentlich bis heute geblieben, in engen Ritzen oder auch auf weiten Flächen, in alten Zwischenräumen oder auch auf neuen Brachen ist die Stadt zugleich eine Landschaft.
Werden eine Straße oder ein Gehweg gepflastert, kommen schon bald zwischen den Pflastersteinen die ersten Pflanzen hervor. Sie sehen sehr bescheiden aus, sind aber Durchsetzungskünstler: so das Einjährige Rispengras (Poa annua), das über das ganze Jahr hinweg vom Januar bis zum Dezember blüht und dabei Samen bildet, aber auch das Niederliegende Mastkraut (Sagina procumbens), das ebenfalls zur Flora der Wege und gepflasterter Straßen gehört. Beide Arten sind auch in der Stadt Leipzig heimisch.
Niedere Pflanzen, die im System unterhalb der Blütenpflanzen stehen, sind noch raffinierter ausgestattet. Mit ihren Fortpflanzungszellen, den Sporen, können sie lange Zeiträume ohne Nahrung und Wasser überdauern und dann, bei ihnen zusagenden Bedingungen ausschwärmen. So wachsen auf neu verlegten Gehwegplatten oder Abdeckungen verschiedene Flechten, so gedeihen auf Dächern und in Dachrinnen die Moose. Derzeit wird viel über feinen Staub und Schmutz in der Luft der Großstädte diskutiert, und wenn sich dieser in Mauerritzen festsetzt, können dort ebenfalls Pflanzen wachsen und gut gedeihen.
Doch verlassen wir das normale Stadtgebiet mit seinen Straßenräumen und der typischen Bebauung und fahren, um ein Beispiel auszuführen, mit der Straßenbahn zum Bahngelände nach Plagwitz. Nur zwei Gleise im Bereich des Bahnhofes werden hier für den geringen Durchgangsverkehr mit Herbiziden unkrautfrei gehalten. Die stillgelegten Gleise des alten Güterbahnhofes unter der Brücke der Antonienstraße hinweg nehmen die weitaus größere Fläche ein.
Hier haben sich Pflanzen ausgebreitet, die in der heimischen Flora eigentlich Fremdlinge sind. Sie sind als so genannte Neophyten hier bei uns angekommen und erwiesen sich gegenüber der ansässigen Pflanzenwelt oft als überlegen. Mit den vor Ort vorgefundenen ökologischen Bedingungen konnten sie gut wachsen und verdrängten weit gehend die heimischen Arten und bestimmen jetzt mit ihrem Blütenflor das Gesamtbild. Neophyten sind Pflanzenarten, die nach der Entdeckung Amerikas eingeschleppt oder eingewandert sind. Oft sind das Jahr des ersten Auftretens in Europa und die Ausbreitungsgeschichte genau bekannt. Im Gegensatz dazu sind Archeophyten in vor- oder frühgeschichtlicher Zeit in unsere Pflanzenwelt eingedrungen.
Im Jahreslauf ist das auf dem Areal des Plagwitzer Güterbahnhofes sehr eindrucksvoll zu beobachten. Abwechselnd beherrscht die gelbe Blütenfarbe das Terrain.
Im Frühjahr sind es die mehr hellgelben Blütenkörbchen des Frühlings-Greiskrautes (Senecio vernalis). Die Art ist eigentlich in Osteuropa und Vorderasien beheimatet. Seit 1850 breitet sie sich andernorts und deshalb auch bei uns auf Ruderalstellen aus. Die schöne und attraktive Pflanze ist einjährig und wird bis zu einem halben Meter hoch. Vorwiegend durch den Bahnverkehr ist sie bis nach Sachsen vorgedrungen.
Im Sommer macht sich ein weiteres Greiskraut auf und zwischen den Gleisen breit, es ist das Schmalblättrige Greiskraut (Senecio inaequidens). Es blüht bis in den November hinein und ist ebenfalls ein Neophyt. Die gelbe Blütenpflanze wurde nachweislich seit 1889 über die Zulieferung von Rohstoffen für die Wollkämmerei aus Afrika in Europa eingeschleppt. Die Art trägt in Italien deshalb auch den Namen Südafrikanisches Greiskraut. In Deutschland verbreitete sich das Schmalblättrige Geiskraut von Westen aus über die Randstreifen der Autobahnen und entlang der Bahnstrecken. In Thüringen wurde es Anfangs der 1990iger Jahre erstmals nachgewiesen. Für die Stadt Leipzig ist es in der Flora von P. GUTTE (1989) als “selten eingeschleppt” aufgeführt. Auf dem Bahngelände in Plagwitz blüht die Art inzwischen reichlich und ist sehr widerstandsfähig.
Im Sommer bestimmen an vielen Stellen schließlich die gleichfalls gelben Blüten der Kanadischen Goldrute (Solidago canadensis) das Bild. Als Zierpflanze, die sie bis heute noch ist, wurde sie seit 1853 in Botanischen Gärten und in Hausgärten gezogen. Aber in vielen Städten schaffte diese Art sehr schnell die massenhafte Ausbreitung auf Ödländern und Bahnanlagen, an Flussufern und auch in lichten Auewäldern. Sie ist nährstoffans-pruchsvoll und kann eine hohe Verbreitungsrate erreichen.
Erwähnenswert für das Areal in Plagwitz sind auch noch weitere Neophyten, die aber im Bestand nicht besonders auffallen. Hierzu gehört das Sperrige Gummikraut (Grindelia squarrosa) mit schönen gelben Korbblütenständen. Diese Art ist zweijährig bis ausdauernd und stammt aus Nordamerika; sie wird erst seit einigen Jahren auf Bahngeländen in Leipzig beobachtet. Die Besenradmelde (Kochia scoparia) kommt auch mit grusigen Schuttböden zurecht, so dass sie sich deutschlandweit auf Bahnanlagen ausbreitet. Sie gehört zur Familie der Gänsefußgewächse, ihre Blüten sind klein, unauffällig und grün. Stellen mit Sand und Kies können auch Ersatzstandorte für heimische Pflanzen sein; so für die Sandstrohblume (Helichrysum arenarium) oder für das Ackerfilzkraut (Filago arvensis). Die Sandstrohblume hat schöne gelbe Blütenkörbchen. Das Filzkraut, ebenfalls ein Korbblütler, ist in allen Teilen dicht filzig behaart, seine Blütenkörbchen sind recht klein und unscheinbar. Beide Arten sind ebenfalls auf dem Bahngelände in Plagwitz zu finden.
So sind die großen Freiflächen in der Stadt Leipzig für unsere heimischen Pflanzen ein “Experimentierfeld” in der Auseinandersetzung mit den fremden Eindringlingen, den Neophyten unter den Pflanzen. Ein Blick auf das Bahngelände in Plagwitz zeigt, dass dieser Kampf beinahe schon verloren ist. Aber die anfangs geschilderten Bilder von den reich blühenden drei gelben Neophyten-Arten zeigen, dass auch ihnen eine Wirkung in der sich stetig verändernden Stadtlandschaft nicht abgesprochen werden kann.

IMPRESSUM
Helmut Völter: > Handbuch der wildwachsenden Großstadtpflanzen.

Erkundungen im Dazwischen der Stadt<
Institut für Buchkunst Leipzig, 2006

Vielen Dank an das Botanische Institut Leipzig für die freundliche Bereitstellung der Herbarbelege.

Fotografien: Franziska Klose, Helmut Völter
Fachliches Lektorat: Ute Lohs
Fachliche Beratung: Anja Kaczmarczyk, Dr. Rolf Reuther, Dr. Peter Otto

Satz aus der DTL Fleischmann und der Courier New
Lithografie: ScanColor Leipzig
Druck: PögeDruck Leipzig
Bindung: Kunst- und Verlagsbuchbinderei Leipzig
Papier: BVS matt 115 glqm, Munken Lynx 80 glqrn, PlanoPak 60 g/qm
Auflage: 500

Mit Unterstützung der Industrie- und Handelskammer zu Leipzig.

I S B N 3-932865-42-1

Helmut Völter
Typografische Gestaltung
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Bureau Spector
Harkortstraße 10 I 04107 Leipzig I  Tel.: 0341 – 228 63 98

 

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